Das Mühlenwesen
(Stand: 16.03.2017)
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Einst galt der Müller als größter Dieb im Land
aus: Zeitung "die Welt" von Hans Markus Thomsen
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Wenn Meier als der deutsche Familienname schlechthin gilt, so ist Müller der häufigste von
allen. Er ist so häufig, dass alle Müller zusammen (zirka 605 000), verstärkt durch die
niederdeutschen Möller (rund 71 000) eine Stadt füllen würden, die größer wäre als Frankfurt
am Main. Wie Meier ist auch Müller kein ursprünglich deutsches Wort. Es leitet sich ab vom
mittellateinischen molinarius, mittelhochdeutsch mülner, müllner. Aus dem wurde durch
Angleichung (wie althochdeutsch zwineling zu Zwilling) Müller. Aber auch die ältere Form
Müllner ist als Familienname über 1000 Mal überliefert.
Natürlich gibt es auch ein germanisches Wort für Müller: der Kürner. Die kürn, kürne oder
quirne ist die Mühle; das Wort lebt noch in Ortsnamen wie Kirnach, Kürnach oder Querfurt.
Etwa 600 Leute tragen den Familiennamen Kürner, sind also auch Müller.
Aber mit der wortgeschichtlichen Erklärung gibt sich der Namenforscher (Onomatologe) nicht
zufrieden. Soll doch, wie Jacob Grimm forderte, die Ergründung der Eigennamen auch "licht
über sitte und geschichte unserer vorfahren verbreiten". Und da bietet ausgerechnet der
"Allerweltsname" Müller so viele und so überraschende Facetten wie kaum ein anderer.
Warum etwa war zur Zeit der Entstehung unserer Familiennamen dieser Beruf zahlenmäßig der
am meisten verbreitete?
Getreide war das Hauptnahrungsmittel; die Kartoffel kommt erst viele Hundert Jahre später
nach der Entdeckung Amerikas in unsere Küche. Die Leute ernährten sich hauptsächlich von
Brot und Getreidebrei, und Mehl und Schrot dafür mahlte der Müller. Unbekannt war damals,
das Mehl zu denaturieren, das heißt, vor dem Mahlen die Randschichten des Korns zu
entfernen. Diese Methode, nur den Mehlkörper zu mahlen, hat den Vorteil, dass das
Mahlprodukt lange haltbar ist, aber den Nachteil, dass im Weißmehl wertvolle Inhaltsstoffe
fehlen. Die waren im Vollkornmehl unserer Vorfahren enthalten. Dafür mussten sie
Beschwernisse in Kauf nehmen: Die hoch ungesättigten Fettsäuren des vermahlenen Keimlings
reagieren mit dem Sauerstoff, und das Mehl wird schnell ranzig. Man ließ also immer nur den
Mehlvorrat für ein paar Tage mahlen. Das hieß: viele Mahlgänge - und viele Müller.
Für die Versorgung der Bevölkerung war der Müller unersetzlich. So unersetzlich, dass er nicht
in den Krieg ziehen musste. Genauer: Er durfte nicht, wie auch die Schäfer und Hirten nicht,
die ihre Herden nicht allein lassen konnten. Die alte germanische Standeseinteilung war aber
durch Waffenrecht und Waffenpflicht bedingt. Wer weder berechtigt noch verpflichtet war, im
Heer zu kämpfen, der gehörte zu keinem anerkannten Stand, er war standeslos. Und weil es
außer der Waffenehre keine andeutungsweise so wichtige Ehre gab, so war der Müller - nach
altem Sprachgebrauch - unehrlich.
Auch ein weiteres "Privileg" stellte den Müller außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung: Für
ihn galt weder das Feierabend- noch das Feiertagsgebot, denn seine Arbeit war wie keine
andere abhängig von den Launen der Natur: "Der Müller ist ein adelig Kind. Es arbeiten für ihn
Wasser und Wind." Nur wenn seine Mühle einer Kirche benachbart war, musste er während
des Gottesdienstes die klappernde Mühle anhalten.
Die gesellschaftliche Niedrigstellung der "Ehrlosigkeit" ging aber nicht so weit, dass etwa der
Schwur des Müllers vor Gericht nichts galt. Aber er konnte nicht in die Ehrenämter der
Gemeinde gewählt werden, keine achtbare Zunft oder Gilde nahm ihn auf. Und das
Schlimmste: Er durfte keine "ehrbare Dirne" ehelichen. Noch im Jahre 1686 drohten in
Hamburg die Reepschläger (Seiler) einem ihrer Meister, der eine Müllerstochter zur Frau
nehmen wollte, den Ausschluss aus ihrer Zunft an. Der Meister rief den Rat der Stadt an. Und
der erkannte - ganz fortschrittlich - diesen Teil der Zunftsatzung als nicht rechtsverbindlich und
ordnete die "Zulassung" der Müllerstochter an.
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Noch 1652 gab es im Herzogtum Braunschweig die Anweisung, den neu geborenen
Müllerskindern die "Unehrlichkeit" in den Taufschein einzutragen. Und nach wie vor galt in
allen deutschen Landen die Bestimmung, dass die Müller den Unehrlichsten von allen
behilflich sein mussten. Sie hatten dem Henker bei einer Hinrichtung die Galgenleitern zu
stellen.
Wie kein anderer Beruf saß der Müller also in vielen Zwickmühlen. So war auch der
"Mühlenfriede" ein für ihn zweifelhaftes Privileg. Mühlenfriede bedeutete: Ein Übeltäter, der
sich in eine Mühle geflüchtet hatte, durfte nicht mit Gewalt herausgeholt werden. Diese
Bestimmung hatte einen ganz praktischen Grund: die Furcht, die Mühle könnte durch die
Gewalthandlung Schaden nehmen. Wie der Müller aber mit dem Galgenvogel in seinem Haus
zurechtkam, war seine Sache.
Damit es auch vor der Mühle friedlich zuging, hatte schon der "Sachsenspiegel" um 1230
bestimmt, dass alle Mahlgäste (die Müllerkunden) strikt nach der Reihenfolge des Ankommens
bedient werden mussten: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" ist eine der wenigen
mittelalterlichen Rechtsbestimmungen, die noch heute sprichwörtlich sind.
Diese gerechte Behandlung war vor allem deshalb wichtig, weil der "Mahlzwang" den Bauern
meist lange Wege aufnötigte. Im Zwang- und Bannrecht des Feudalismus konnte nicht jeder
Müller nach Lust und Laune eine Mühle aufmachen. Der Lehnsherr vergab die Mühle als
Privileg, und der "Mühlenzwang" bestimmte, dass alle seine Untertanen ausschließlich in der
landesherrlich privilegierten Mühle mahlen lassen mussten. Von jedem Scheffel Mehl forderte
der Lehnsherr seinen Anteil. Für das Mahlen wurde entweder der Mahlgroschen bezahlt, in der
Regel aber behielt der Müller eine bestimmte Menge Mehl ein, Molter, Malte oder auch Metze
genannt. Davon lieferte er den größten Teil an den Landesherrn ab, einen Teil behielt er als
Mahllohn für sich.
Diese Regel, so einfach sie scheint, so verhängnisvoll war sie für den Ruf des Müllers.
Jahrhundertelang galt der Müller als "der größte Dieb im ganzen Land", weit vor den Webern
und Schneidern, die auch im Verdacht standen, mit dem ihnen anvertrauten Garn und Tuch
nicht ehrlich umzugehen. Denn Groll und Wut des Bauern, der mit seinem Korn zur Mühle
ging und nach seiner Meinung immer mit zu wenig Mehl nach Hause kam, richteten sich nicht
gegen den Landesherrn, der ihn eigentlich schröpfte, sondern gegen den Müller, von dem er
sich übervorteilt fühlte.
Was nun schwerer wog, das Misstrauen der Bauern oder die Neigung des Müllers, zu ernten,
wo er nicht gesät hatte, der Leumund des Müllers war unwiderruflich dahin. Das machte es ihm
vollends unmöglich, den Makel seines Standes loszuwerden. Den schlechten Ruf, ein Dieb zu
sein, teilte er mit Berufsgenossen in anderen Ländern. So erzählt der französische Dichter
Alphonse Daudet in seinen "Geschichten aus der Provence", dass der Pfarrer für die Beichte
des Müllers einen ganzen Tag anzusetzen pflegte, während die übrigen Pfarrkinder an
vorherigen Tagen rudelweise absolviert wurden.
Ungezählt sind die Spottverse des Volksmundes: "Was ist des Müllers größtes Glück? Dass die Säcke nicht reden können."
"Die Müller hängt man nicht wie andere Diebe, sonst würde das Handwerk untergehen."
"Der Müller hat zwei Scheffel, einen zum Ein-, den anderen zum Ausmessen."
Auch die Tatsache, dass Störche nicht auf Mühlen nisten - wer kann es den klugen Vögeln
verdenken, dass sie Gebäude meiden, die noch lauter klappern als sie, und das Tag und Nacht -,
wurde den Müllern angelastet: "Die Störche haben Angst, dass der Müller ihnen die Eier stiehlt."
Aufschlussreich ist ein Dialog zwischen Bauer und Müller im "Ambraser Liederbuch"
aus dem Jahr 1582: Bauer: "Müller, hast mir das Mehl bereit? Du hast mirs halb gestohlen, gestohlen."
Müller: "Du lügst, du lügst, du grober Bauer! Es ist in der Mühlen verstoben, verstoben!"
Das natürliche Phänomen, das man heute "Schwund" nennt, machte auch den ehrlichen
Müllern zu schaffen, und für den Bauern, der Korn und Mehl eins zu eins umrechnete, war es
vollends unerklärlich, da er den für ihn komplexen Mühlbetrieb nicht durchschaute.
Zum Dateiende
Dass der Müller aber den Schwund zu seinen Gunsten vermehren konnte, den Verdacht hatten alle
Bauern - manchmal wohl auch zu Recht.
Um den Müller vor sich selbst zu schützen und den Unmut der Bauern zu sänftigen, war den
Müllern an vielen Orten verboten, Hühner zu halten oder Schweine zu mästen, oder die Anzahl
der Tiere wurde begrenzt. Denn davon waren alle überzeugt: "Der Müller hat die fettesten Schwein, die im ganzen Lande sein."
Doch der heillos schlechte Ruf des Müllers ließ sich noch steigern: Es gab Mühlen, die
zusätzlich ein Schankprivileg bekamen. Das ist vielen Müllern von ihren Lehnsherren wohl
eher aufgedrängt worden, der sicheren Einnahmen für den Herrn wegen. Im Gefolge des
Alkoholausschanks gab es, teils gemunkelt, teils verbürgt, in den oft abgelegenen Mühlen auch
eine Mühlenprostitution. So konnte es wohl geschehen, dass ein Bauer nicht nur mit zu wenig,
sondern gänzlich ohne Mehl nach Hause kam, weil er es auf die eine oder andere Weise
verlustiert hatte.
Ob Schutzbehauptung der Mahlgäste oder erfunden von doppelt betrogenen Bauersfrauen,
immer öfter war die Rede von "Teufelsmühlen", die in Sagen fortleben. Dass immer mal
wieder eine Mühle durch damals unerklärliche Mehlstaubexplosionen in Schutt und Asche
gelegt wurde, trug dazu bei, solche Unglücke entweder als Werk Beelzebubs oder als Zorn des
Gerechten zu deuten.
Im Licht der Aufklärung tritt endlich auch der Müller aus seiner in der Regel unverschuldeten
Unehrlichkeit. Der "Müller Arnold" von Sanssouci darf sich in einer Anekdote sogar mit dem
Alten Fritz anlegen. Vor allen in den Städten entstehen dann auch hoch achtbare Müllerzünfte.
In der Romantik schließlich wandelt sich das Müllerleben zur Idylle. Joseph von Eichendorff
macht den Müllerburschen zum Sinnbild unbeschwerten Wanderlebens ("Aus dem Leben eines Taugenichts").
Und im Gedichtzyklus "Die schöne Müllerin" von Wilhelm Müller, vertont von
Franz Schubert, ist die doppelte Unehrlichkeit, die dem Müller anhing, in weite Ferne gerückt.
Eichendorffs Verse "In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad" sind die Verdichtung
bürgerlich-romantischer Poesie schlechthin. Sein Mühlenlied wurde 27 Mal vertont.
Der politische Kampf des Bürgertums und der technologische Fortschritt bringen dann
endgültig das Ende der so genannten "Müllerfreiheit". Mit der Verfassung des Deutschen
Reiches 1871 fallen die letzten Bann- und Zwangsrechte. Die großen Dampfmühlen brauchen
keine rauschenden Bäche mehr und keinen launischen Wind. Die Müller suchen sich andere
Berufe, nur die Namen bleiben.
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